Vom Timmendorfer Strand bis nach Coburg durch das deutsche Hinterland

Eine Rad-Road-Tour entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze Ende August 2021

Was bleibt nach mehr als 800 Kilometern auf dem Rad? Es bleiben Bilder von einem sehr schönen Land, das vom Ostsee-Strand über die Rhön bis nach Coburg dörflich und in diesem Herbst im Wahlkampf ist. Bilder von Flaschenbierautomaten in bayerischen Hotels, einem Museum, dass die mörderischen Selbstschussanlagen der DDR-Grenze zeigt und viel Grün bleiben. Es gibt immer andere Corona-Regeln je nach Bundesland. Ich navigiere am Ende mit einer App, die mich über die Kolonnenwege der ehemaligen Grenztruppen der DDR und durch völlig saubere, aufgeräumte, gepflegte, aber total menschenleere Dörfer sowie entlegenste Waldwege geführt hat. Angekommen bin ich immer.  In der Regel bin ich sechs bis acht Stunden im Sattel. Mein Bike macht alles mit, von dahinrollen auf Asphalt, über Waldwege, Schotterpisten und tiefen Matsch. Die Anstiege sind mit Gepäck wirklich nicht leicht. Die Fronttaschen sind vorne am Gepäckträger und keine Low-rider, was das Lenkverhalten erstmal sehr gewöhnungsbedürftig macht. Auf jeden Fall bleibt ganz am Ende auch das sehr taube Gefühl in den Fingern durch den Griff zum Rennradlenker und damit die Schwierigkeit, den Zündschlüssel für den Mietwagen für die Heimfahrt überhaupt umgedreht zu bekommen, weil die Kraft in den Fingern weg ist. Und das Gefühl echt etwas geschafft zu haben mit dem Bike.

 

Wie kann man die gesamte Reise in fünf kurzen Sätzen zusammenfassen?

Ostheim vor der Rhön
Ostheim vor der Rhön

 

  • Deutschland entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze ist sehr schön und abwechslungsreich und lohnt zu biken
  • Die Wahlplakate zur Bundestagswahl 21: Wenig Laschet, viel Scholz, punktuell erstaunlich viel MLPD und flächendeckend viel FDP und Grün, wo die AFD ist, ist keine NPD und umgekehrt.
  • In ganz Deutschland werden überall Arbeitskräfte gesucht. In vielen ländlichen Gegenden standen große Plakate mit Jobangeboten
  • Auf dem Land werden selbst die freiwilligen Feuerwehren dichtgemacht. Alte Feuerwehrhäuser mit Aufschriften "Freiwillige Feuerwehr von 1889 bis 1994".
  • Für die Reise hatte ich das richtige Bike dabei. Das Trek 920. Rennradlenker, Mountainbikereifen.

Das grüne Band

Vom Strand geht es mit der Fähre erstmal über die Trave und nach Mecklenburg-Vorpommern. Von Komoot habe ich mir die Strecken „Das grüne Band“ heruntergeladen. Die Strecken sind klasse, aber diese war das für Rennrad berechnet und mit Gepäck bin ich aber deutlich langsamer. Im Flachland und mit Rückenwind klappt das alles noch super und die ersten 120 Kilometer rolle ich in knapp sieben Stunden bis nach Lauenburg an die Elbe. Das Hotel Bellevue hat eine schöne Aussicht auf den Fluss. Empfang und Restaurant haben den Charme der 50er-Jahre konserviert.

Über Wittenberg nach Helmstedt

Über die Elbdeiche fliege ich mit Rückenwind nach Wittenberge. Mehrmals überquere ich mit der Fähre die Elbe und halte mich nicht an die Komoot-Strecke, was mich über Gravel-Trails bringt und mir einige Anstiege erspart.

Wittenberge ist genau mitten auf der Bahnstrecke von Hamburg nach Berlin und die Alte Ölmühle (link) ist dort ein sehr schönes Hotel mit allen Annehmlichkeiten. Im Ort ist ein Eisenbahnmuseum, das heute leider zu hat. Davor treffe ich auf einen sehr redseligen Einheimischen, der mir auch von früher erzählt, mir aber dann zu anhänglich wird. Ich nutze den alten Messetrick Leute abzuwimmeln („Wo müssen Sie noch hin? – OK, da lang? Ich muss jetzt in die andere Richtung“). Von Wittenberge geht’s nach Helmstedt, das mir als Grenzübergang Helmstedt/Marienborn noch in Erinnerung ist. In uralten Reisepässen habe ich noch Stempel aus Marienborn und kann mich noch an die kalten DDR-Grenzer bei der Passkontrolle im Zug erinnern. Die Rad-Strecke führt durch Orte wie Kalbe. Dort gab es „DDR-Jagdwurst“, was auch immer das ist. Ein Mann fuhr mit Moped, Anhänger und im Anhänger festgebundenen Hund vor, während ich vor dem Café dem sehr stabilen Metzgergesellen dabei zusah, wie er das Plakat mit der DDR-Jagdwurst und dem Hackepeter („Petra, jetzt hackt’s wohl“) befestigt. Durch den Wald bei Gardelegen über Rätzingen ging es nach Helmstedt.

 

Fast genau alle 5 Kilometer kommen in Deutschland das nächste Dorf bzw. das nächste Ortseingangsschild

 

Wenn sich die Strecke zieht, fängt man an, kleinteilig Abschnitte zu zählen. Der kleinste Abschnitt geht immer von Dorf zu Dorf und das sind dann immer fast genau 5 Kilometer. Warum das so ist, kann ich mir nicht erklären.  Entlang des grünen Bandes (ehemalige Grenze) ist es meist sehr ländlich. In vielen Dörfern habe ich buchstäblich keine Menschenseele angetroffen. Dass dort der demografische Wandel unbarmherzig zuschlägt, sieht man an manchen – oft sehr kleinen – Feuerwehrhäusern der freiwilligen Feuerwehr. An manchen steht so etwas wie: Freiwillige Feuerwehr von 1894 bis 1992. Dann war Schluss. In einem Ort, wo die freiwillige Feuerwehr aufgegeben wird, gibt es vermutlich auch sonst nicht mehr viel.

 

Härteste Etappe durch den Harz

Die härteste Etappe war von Helmstedt nach Bad Sachsa durch den Harz. Während man die ersten 70 Kilometer noch in der Flachetappe dahinrollte, war in Wernigerode Schluss mit lustig. Sehr steil ging es „die Winde“ hinauf auf den „Armeleuteberg“. Oben angekommen verstärkte sich der Regen bei kühlen 11 Grad. Ich stand buchstäblich mitten im Wald. Das Garmin wusste nicht mehr weiter und meine Scout-App wies mich an, mitten durch den Wald auf eher angedeuteten Waldwegen zu fahren bzw. zu schieben. In „Elend“ am Oberharz am Brocken hatte ich einige üble Steigungen hinter mir, war orientierungslos und noch einige Steigungen vor mir. Bei den Abfahrten musste man das Bike mit ordentlich Geschwindigkeit und Gepäck im Regen kontrolliert runterbremsen. Nebenher rollten die Autos und LKW. Irgendwie habe ich es bis nach Bad Sachsa geschafft und bin froh nicht aufgegeben zu haben. Dabei habe ich gefühlt alle Berge des Harzes mitgenommen, den Brocken ausgenommen. Beim Ausfüllen des Personenbogens im Hotel lief mir das Wasser aus dem Ärmel auf die Empfangstheke, was der Concierge sehr cool übersehen hat.

Von Creuzburg über Geisa nach Ostheim vor der Rhön

Die nächste Tour ging nach Creuzburg und von da entlang der Werra nach Geisa. Die Werra ist eine trübe, braune Angelegenheit. Es gibt aber einen schönen Radwanderweg entlang des Flusses. Den habe ich leider nicht genommen und so durfte ich nach Geisa ein paar Anstiege mitnehmen. Ich habe zuvor noch nie in einem Schloss übernachtet. Schloss Geisa ist ein schönes Hotel mit hohen Räumen und Sitz der Point-Alpha-Stiftung, die eine Reihe sehr illustrer Persönlichkeiten ausgezeichnet hat (Wolf Biermann, Helmut Kohl, George H.W. Busch, Michail Gorbatschow und andere). Die Stadt ist auch der Herkunftsort der Familie Deschauer, die im Ruhrgebiet ihre gleichnamige Supermarktkette hatte. In Bochum-Gehrte hatten wir vor dreißig Jahren mit einer Studenten-Lern-WG dort immer gefühlt den gesamten Deschauer Supermarkt leergekauft, um nach ausgiebigem Lernen wirklich groß zu kochen und gut zu essen. Der Ort Geisa verfügt auf der Grenze über ein Grenzmuseum. Sehr gruselig sind die ausgestellten Selbstschussanlagen, die über große Trichter wie Lautsprecher verfügen und Metallstücke auf Flüchtlinge abgeschossen haben. Die Grenze ist zwar Geschichte, aber in den Köpfen lebt sie weiter. Ich sollte mir beim Point Alpha anschauen, wie „der Westen uns fertig machen wollte“, so hörte ich die Empfehlung von Seiten Ost aus Geisa. Point Alpha war ein sehr östlicher Vorposten der US-Armee, der jetzt natürlich auch ein Museum ist. Und dort liest sich die Geschichte natürlich ganz anders. Die Gegend um Fulda wurde mit dem Namen „Fulda Gap“  als möglicher Invasionsort der roten Armee gesehen. Es gab sogar ein Brettspiel gleichen Namens, dass im dortigen Museum ausgestellt ist. Und es gab wohl auch taktische Atomraketen um alles in eine Wüste zu verwandeln, damit die rote Armee nicht bis Frankfurt und seinen Militärflughafen kommt. Statt sich in Ost und West aufzuteilen, sollte man jeden Tag feiern, dass der – atomare – Irrsinn sich nicht Bahn gebrochen hat und es keine waffenstarrende Grenze mehr gibt. Von Geisa gings nach Ostheim vor der Rhön.

Von Ostheim nach Coburg

Ostheim hat einer der größten erhaltenen Wehrkirchen Deutschlands. Hatte ich nicht erwartet und so konnte ich abends zu Fuß ein wenig Mittelalter/beginnende Neuzeit-Flair atmen. Abendessen gab es aber beim Griechen. Alles andere war zu.

Von Ostheim weiter nach Coburg. Eigentlich wollte ich die Bahn nehmen und um die nicht zu verpassen, hatte ich vor mit dem Taxi die Strecke abzukürzen. Wenn Claus Weselsky mich gelassen hätte, wäre ich mit der Bahn nach Hause gefahren. Es war aber Streikzeit. Taxi war aber bestellt. Der Taxifahrer war sehr redselig über das Leben im Grenzgebiet und dass in den 50er-Jahren des letzten Jahrhunderts die Grenzer Ost- und West sich auch mal an der Grenze auf einen Schnaps getroffen hätten und nach der Hälfte der Fahrt hat er mir erzählt, dass er nicht geimpft sei, weil er noch nicht weiß. OK, halt das Fenster aufgemacht und gehofft das die Impfe hält. Und so habe ich mein Bike in Coburg in einen geliehenen Ford Transit gepackt und bin nach Hause gefahren.